«Mario Giacomelli fotografiert im Hospiz von Senigallia»

© Emidio Angelini - Righetti Collection Bern

Wenn alles, was du erlebt hast, in Worte ausgedrückt werden kann, hast du nicht gelebt.
— Mario Giacomelli

Claudio Righetti mit Mario Giacomelli im Musée de l’Elysée, Lausanne 1993 anlässlich der Vernissage seiner grossen Retrospekive.

Die Handschrift von Mario Giacomelli –

Einblick in die Sammlung Righetti an der photoSCHWEIZ 2025

Unsere Sammlung folgt konsequent und geradezu obsessiv der Handschrift Mario Giacomellis, indem sie seine Arbeitsweise beleuchtet und seine künstlerische Einzigartigkeit und Bedeutung hervorhebt. Sie dokumentiert mit dem Blick des Sammlers die Entstehung von Einzelbildern und Bildzyklen, die in einem kontinuierlichen Bezug zueinanderstehen und eine Sicht auf Giacomellis Werk vermitteln, die dessen Innenleben in den Mittelpunkt stellt.
— Claudio L. Righetti

Mario Giacomelli (1925-2000) gilt als der international einflussreichste italienische Fotograf. Im Laufe seiner Karriere entwickelte er einen persönlichen Zugang zur lyrischen Kraft der Fotografie und konzentrierte sich dabei auf wichtige Lebensthemen wie den Lauf der Zeit, die Erinnerung, die Erde, das Leiden und die Liebe.

Giacomelli entdeckte die Kamera als ideales Ausdrucksmittel, als er am Weihnachtstag 1952 am Strand von Senigallia in den italienischen Marken seine ersten Aufnahmen mit einer tags zuvor gekauften Comet Bencini «S» machte, die er – nach zwischenzeitlicher Verwendung einer Voigtländer Bessa II – Ende 1956 definitiv durch die legendäre und unzertrennliche Kobell Press ersetzen sollte.

Eines der Ergebnisse ist L'approdo (angeschwemmt), ein Bild des von einer Welle umspülten Ufers, das an einen bewegten Pinselstrich erinnert. Nach seinen ersten Versuchen entwickelt Giacomelli fotografische Serien in Form von Geschichten, die durch Bilder erzählt werden, wobei es ihm nicht darum geht, das Sichtbare zu wiederholen, sondern unter die Haut der Wirklichkeit zu gehen, d.h. die Energie zwischen seiner Seele und den Dingen, die ihn umgeben, sichtbar zu machen. In seinen eigenen Worten:

«Ich interessiere mich für eine Wirklichkeit, die atmet, die in Bewegung bleibt, weil ich etwas erzähle, das von Bedeutung ist, wenn das Bild von seiner ursprünglichen Absicht getrennt und in Räume gestellt wird, die von meiner eigenen Sensibilität kontrolliert werden, wo alles von einem neuen Fluss durchdrungen zu sein scheint».

1953, im Alter von 28 Jahren, wird Mario Giacomelli von Giuseppe Cavalli, eines schon damals angesehenen Fotografen und Persönlichkeit der italienischen Fotografie, als Gründungsmitglied in die Fotografengruppe MISA aufgenommen. Paolo Monti nannte ihn 1955 den «neuen Mann der italienischen Fotografie», weil er erkannte, dass Giacomelli die neorealistische Vision, in der die italienische Fotografie «gefangen» war, überwunden hatte.

Im März 1956 schloss sich Giacomelli noch kurzzeitig der Gruppe La Bussola (der Kompass) an, die 1947 ebenfalls von Cavalli in Mailand mit dem Ziel gegründet worden war, die Fotografie als Kunst unter professionellen Gesichtspunkten und nicht nur als Dokumentation zu fördern – ganz im Sinne der Erneuerung. Doch interne Streitigkeiten führten noch im selben Jahr zum Bruch zwischen den Fotografen Cavalli und Crocenzi und 1957 zur endgültigen Auflösung sowohl der Gruppe MISA als auch von La Bussola.

Im April desselben Jahres wird in Venedig die erste Internationale Biennale der Fotografie eröffnet, die vom Circolo Fotografico la Gondola, der Schweizer Zeitschrift Camera und Crocenzis Centro per la Cultura nella Fotografia (CCF) organisiert wird – ein für die damalige Zeit bahnbrechendes Ausstellungsereignis mit Fotografien der wichtigsten Reporter der Agentur Magnum (darunter Werner Bischof, Robert Capa, Eugene Smith und Henri Cartier-Bresson, die bereits 1956 in Mailand und Bologna ausgestellt hatten) und der Vertreter des deutschen Expressionismus unter Otto Steinert.

Vor diesem Hintergrund markiert Giacomelli mit seiner ersten Fotoserie Vita d'ospizio (Leben im Hospiz), die im Hospiz von Senigallia spielt, in dem seine Mutter jahrelang als Wäscherin gearbeitet hatte, einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Schaffen.

Ab Mitte der 1950er Jahre gewinnt Giacomelli erste Fotopreise. Er nimmt unter anderem an Gruppenausstellungen teil, von denen viele der humanistischen Fotografie der Nachkriegszeit gewidmet sind, wie die Ausstellung Was ist der Mensch, die in Frankfurt beginnt und dann international wandert.

Trotz seines zurückgezogenen Lebensstils nimmt Giacomelli 1957 an der ersten Ausstellung italienischer Fotografie in den USA teil, die im renommierten George Eastman House in Rochester, New York, stattfindet. Dort zeigt er eine seiner ersten Landschaftsaufnahmen, die später weltberühmt werden sollten.

Ebenfalls im George Eastman House wird 1968 seine gesamte Serie A Silvia gezeigt, die 1964 für die RAI nach dem gleichnamigen Gedicht von Giacomo Leopardi entstanden ist (Giacomelli folgt dabei dem Drehbuch des Theoretikers der Fotogeschichte Luigi Crocenzi). Die Ausstellung ist im folgenden Jahr in verschiedenen Städten der USA zu sehen.

Lamberto Vitali stellt Mario Giacomelli 1960 auf der Mailänder Triennale vor, und der einflussreiche Fotokunsthistoriker und Kurator John Szarkowski präsentiert Scanno, einen der berühmtesten Fotozyklen Giacomellis, unmittelbar nach dessen Ankunft 1963 im Museum of Modern Art in New York. 1964 wird Giacomelli von Szarkowski als einziger Italiener für die von ihm kuratierte Ausstellung The Photographers Eye ausgewählt. Gleichzeitig erwirbt das MOMA Werke von ihm für die ständige Sammlung.

Bereits 1962 hatte Otto Steinert Fotografien von Giacomelli in seine Subjektive Fotografie aufgenommen, und Karl Pawek zeigte Arbeiten von Giacomelli sowohl in der Zeitschrift Magnum als auch in seiner Totalen Fotografie.

Bill Brandt und Mark Haworth-Booth wählen Werke von Giacomelli für ihre wegweisende Ausstellung The Land 1975 im Victoria and Albert Museum in London aus und 1978 wird er eingeladen, seine Landschaftsfotografien auf der Biennale von Venedig unter dem Titel Von der Natur zur Kunst – von der Kunst zur Natur auszustellen.

Die endgültige Anerkennung Giacomellis in Italien erfolgte 1980, als der italienische Kunsthistoriker Arturo Carlo Quintavalla ihm eine Retrospektive im CSAC – dem Centro studi e archvio della communicazione der Universität Parma – widmete, die von einem wissenschaftlich fundierten Katalog begleitet wurde.

So avancierte der Autodidakt Mario Giacomelli in den 1970er und 1980er Jahren zu einem der markantesten und einflussreichsten Fotografen der internationalen Fotografie- und Kunstszene. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt Giacomelli 1995 den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie – begleitet von der Retrospektive Mario Giacomelli, Fotografien 1952-1995 im Museum Ludwig in Köln (Katalog von Karl Steinorth).

Giacomellis Werke befinden sich in Sammlungen und Museen auf der ganzen Welt, darunter das MOMA, das Getty Museum, das Metropolitan Museum of Art, das Victoria and Albert Museum oder die Sammlung Ludwig, und in der Schweiz in der Sammlung des Musée de l’Elysée in Lausanne (dort teilweise durch Schenkungen aus der Sammlung Righetti 1988 und 1993) und der Fotostiftung Schweiz, um nur einige zu nennen.

Davon unbeeindruckt ändert Mario Giacomelli weder seine Gewohnheiten noch sein Verhalten: Er bleibt sein ganzes Leben in Senigallia, wo er bis zu seinem Tod im November 2000 mit der Fotografie experimentiert. Vielleicht gibt es deshalb auch zu seinem 100. Geburtstag noch so viel über ihn zu entdecken, über seine unvergleichliche Arbeitsweise, die Komplexität seines Denkens und die Vielfalt seines fotografischen Oeuvres.

Niemand hatte ein besseres Gespür für Linien, für das Filigrane, für Oberflächen und Strukturen, für die Vielfalt der Weiss-, Grau- und Schwarztöne in der Natur. Und das macht sein Werk in jeder Hinsicht einzigartig.